Endstation Malma: Roman
Ich habe zuvor erst einen Roman von Alex Schulman gelesen, nämlich "Verbrenn all meine Briefe". Dennoch denke ich auch dank der Leserunden zu den Romanen bereits einige typische Schulman Motive erkennen zu können. Auch Schulman ist einer der AutorInnen, in dessen Geschichten Autobiografisches sehr stark hineinspielt. Im konkreten Fall stört mich dies aber nicht.
Im neuen Roman "Endstation Malma" geht es thematisch um Kindheitstraumata und deren Folgen über Generationen hinweg. Dies wird durch das Bild des Zuges, bei dem die verschiedenen Wagen aneinandergereiht sind, symbolisiert. Wie die Wagen eines Zuges sind Familienmitglieder über mehere Generationen aneinander gekettet: Was dem einen widerfährt, wird sich auf folgende Generationen auswirken. Mir gefällt die Symbolkraft des Zuges hier sehr. Darin sitzen drei Protagonisten mit dem gleichen Ziel, Endstation ist Malma. Doch es wird schnell klar, sie fahren nicht gemeinsam, sondern reisen zu sehr verschiedenen Zeitpunkten.
Zum einen reist die kleine 10 jährige Harriet gemeinsam mit ihrem Vater nach Malma. Deren Verhältnis zueinander steht nicht zum Besten. Sie hat eine Urne dabei, die beigesetzt werden soll. Auch Oskar visiert Malma as Ziel an. Er ist mit seiner Ehefrau unterwegs. Eine weitere dysfunktionale Beziehung. Zum dritten reisen wir mit Yana nach Malma. Sie sucht Antworten auf drängende Fragen.
Die Schicksale der Protagonisten sind miteinander verbunden und zeitigen Auwirkungen. Kindheitstrauma hinterlassen tiefe Wunden. Sie übertragen sich gerne auf Folgegenerationen. So auch in Schulmans Geschichte. Mich hat Schulman mit seiner Erzählung berührt. Romankonstruktion und Erzählstimme gefielen mir gut. Man mag sich darüber streiten, ob die Geschichte nicht auch mit ein bißchen weniger Schrecken funktioniert hätte, aber ein wirkliches Manko sehe ich darin nicht. Am Ende habe ich das Buch zufrieden zugeschlagen und freue mich nun auf einen Nachfolgeroman. Ich bin froh, Schulman als Autor entdeckt zu haben.
Ausdruckstarke Bilder einer dysfunktionalen Familie zeichnet Alex Schulman in seinem neuesten Roman „Endstation Malma“.
Drei Familienmitglieder: Harriet, Oskar und Yana erzählen abwechselnd über ihre Reisen mit dem Zug zu dem kleinen, ruhigen Ort inmitten der schwedischen Wälder. Die drei Erzähler unternehmen ihre Reisen zu unterschiedlichen Zeiten und bevor sie ihr Ziel erreichen, schwelgen sie in Erinnerungen an die Ereignisse aus ihren komplizierten Familienleben. Für die drei Zugreisenden sind es gleichzeitig die Zeitreisen durch ihr Leben.
Die Bilder, die dabei entstehen, haben eine enorme emotionale Kraft. Sie bewegen und berühren, schockieren und erschrecken, erzeugen eine düstere Atmosphäre und sind oft schwer zu ertragen.
Trotz all dieser Emotionen sind mir die Charaktere jedoch fremd, unnahbar geblieben, oft konnte ich ihre Handlungen nicht nachvollziehen. Sie alle sehnten sich nach Liebe, könnten jedoch selbst keine Liebe geben.
Die anschauliche Schreibweise, dramatische Szenen und mit einem Cliffhänger endende kurze Kapitel, lassen den Roman zuerst wie einen Thriller wirken; man möchte ihn in einem Rutsch zu Ende lesen.
Doch dann häufen sich die unerklärten, schockierenden Ereignisse, die nur noch verwirren, die Sprache wird direkter und irgendwie rauer, die wiederkehrenden Details und die düstere Atmosphäre ermüden. Und auch der schwache Hoffnungsschimmer am Ende des Romans verfehlt in dem Zusammenhang seine Funktion; er kann mich nicht wirklich überzeugen.
In Alex Schulmans Roman “Endstation Malma“ fahren verschiedene Menschen mit dem Zug nach Malma, ein kleiner Ort, der mehrere Stunden von Stockholm entfernt liegt. Sie fahren jedoch keineswegs gleichzeitig im selben Zug, sondern zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens. Tatsächlich handelt es sich um drei Generationen einer Familie. Ein Vater fährt mit seiner kleinen Tochter Harriet, Harriet mit ihrem Mann Oskar, als ihre Ehe bereits gescheitert ist und schließlich deren Tochter Yana, nachdem der Vater gestorben und die Mutter schon vor Jahren spurlos verschwunden ist. Was hoffen sie, in Malma zu finden? Die Perspektiven und die Zeitebenen wechseln, so dass die Aufmerksamkeit des Lesers gefragt ist. Yana erhofft sich von der Reise nach Malma Aufklärung über Rätsel der Vergangenheit. Verschiedene Geheimnisse kommen ans Licht und vor allem sehr problematische familiäre Beziehungen. Die Ehen scheitern, und sowohl Harriets Mutter als auch Harriet selbst lässt ihre Tochter im Stich. „Familie ist eine schädliche Einrichtung“ könnte man meinen, wenn man diesen Roman liest, so traurig sind die Schicksale der Kinder, die verlassen oder früh von einer Schwester getrennt werden. Alex Schulman stellt diese Schicksale einfühlsam und empathisch und auch sprachlich außerordentlich gelungen dar.
Ein sehr empfehlenswertes Buch, dessen Figuren im Gedächtnis haften und zum Nachdenken anregen.
Mein Lese-Eindruck:
„Ich will die Dunkelheit in mir verstehen“, schreibt Alex Schulman in seinem Roman „Verbrenn all meine Briefe“. Damit wird der psychotherapeutische Ansatz seiner Bücher deutlich: Schreiben zur Bewältigung einer traumatischen Kindheit. Auch in seinem letzten Buch erzählt Schulman von traumatisierten Menschen. Er erzählt schreckliche Kindheiten, von verlassenen und verratenen Kindern und Erwachsenen, von einsamen Menschen, von gestörten und dysfunktionalen Beziehungen, bei denen die Familie keinen Schutzraum mehr bietet. Menschen, die in ihren Glaubenssätzen gefangen sind und ihre Gefühle nicht äußern können, Lebenslügen und nicht gelingende Beziehungen - es ist harter Tobak, den er dem Leser bietet. Und er erzählt von dem, was man heute transgenerationale Traumatisierung nennt: die Weitergabe von seelischen Verletzungen von einer Generation an die nächste.
Für dieses komplexe Thema wählt Schulman ein bestechend klares Bild: das Bild einer Zugfahrt. Der Leser trifft auf die ca. 10 Jahre alte Harriet und ihren abweisenden Vater, wobei Harriet eine Urne in ihrem Gepäck hat. Außerdem reist Oskar mit seiner Frau. Das Paar ist zur Trennung entschlossen, aber Oskars Frau will ihm vorher noch einen besonderen Ort ihrer Kindheit zeigen. Und eine junge Frau sitzt im Zug, Yana, sie hat ein Fotoalbum dabei und sucht ihre verschwundene Mutter. Es dauert etwas, bis der Leser die Zusammenhänge erkennt. Es sind drei Generationen ein- und derselben Familie, die hier im immer gleichen Zug sitzen, sie fahren in dieselbe Richtung und haben immer dasselbe Ziel: den fiktiven Ort Malma. Und dem Leser wird auch klar, dass alle Reisenden ein Attribut der Vergänglichkeit bei sich heben bzw. dass sie in die Vergangenheit blicken.
An diesem Punkt aber dreht der Autor/Erzähler die gewohnten Begriffe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihr Gegenteil um: die Zukunft ist klar, weil das Ziel feststeht, nämlich die "Endstation Malma“. Aber die Vergangenheit kann mit Deutung versehen werden. Sie kann immer wieder aufs Neue beschworen und ihre Wirklichkeit kann durch den Blick zurück verändert werden. Vor allem aber kann sie erzählt werden, und durch die Sprache – sei es jetzt das Erzählen, wie es Schulmans Figuren in diesem Roman tun, oder sei es das Schreiben wie bei Schulman selbst – wird die Vergangenheit beherrschbarer.
Und so besteht ein Großteil der Handlung aus Retrospektiven, aus Erinnerungen der Reisenden. Jede Figur beleuchtet eines oder mehrere Ereignisse der Vergangenheit. Das Interesse an der Vergangenheit ist größer als das an der Gegenwart und der Zukunft. Die Zukunft dieser traumatisierten Menschen bietet offenbar wenig Gestaltungsmöglichkeiten, ganz im Unterschied zur Vergangenheit. Dieser Blick zurück dagegen hilft die Vergangenheit genauer zu erfassen, und die Sprache macht die Schrecken der Vergangenheit vielleicht nicht kleiner, aber erträglicher.
Zugleich entsteht durch das gleichzeitig wirkende Nebeneinander der Figuren und Handlungen ein merkwürdiger Schwebezustand, bei dem sich die Zeiten und auch die Räume ineinander verschieben und sich die Grenzen verwischen.
Das Motiv des fahrenden Zuges trägt zu dieser Grenzverwischung bei. Schulman nutzt das Motiv aber auch, um das Durchbrechen der Generationenkette zu erzählen. Der mit Getöse herannahende Zug wird zu einer Metapher der drohenden Gefahr, und jeder Waggon ist ein Bild für das Gefangensein einer Familie im generationenübergreifenden Trauma. Sehr schön spielt Schulman dieses Symbol durch, wenn er bei Yana, dem jüngsten Glied der Familienkette, den Zug durchfahren lässt: Yana steigt nicht in diesen Zug, der sie wieder in die Vergangenheit bringen würde. „Richtungswechsel!“ (S. 300). Yana befreit sich, sie trägt das Trauma nicht weiter, sie wird einen anderen Weg nehmen. Ein hoffnungsvolles Ende.
Mit diesen erzählerischen Kunstgriffen und dem überaus eindringlichen Bild einer Zugfahrt gibt Schulman seinem Roman eine feste Form. Damit hebt Schulman sein Buch über das rein autobiografische und therapeutische Schreiben hinaus ins Literarische. Die klare Komposition des Romans mag vielleicht auch den therapeutischen Nutzen haben, die Schrecken zu bändigen.
Zur strengen Komposition gehört auch die wiederkehrende Verwendung von Motiven. Schulman setzt sie sehr plakativ ein, wenn er z. B. in zwei Generationen Ketten aus Trinkhalmen basteln lässt und dazu auch noch dieselben Formulierungen einsetzt. Damit stößt er seinen Leser mit der Nase auf diese Motive. Auch bestimmte Handlungen und Sätze wiederholen sich fast identisch bzw. wortwörtlich in jeder Generation.
Hier führt Schulman seinen Leser zu eng, er misstraut ihm offenbar. Wieso? Der Roman mit seinen Verwürfelungen stellt den Leser durchaus vor Anforderungen. Wieso lässt der Autor seinem Leser jetzt keinen eigenen Entdeckungsspielraum?. Auch die Cliffhanger wären nicht nötig gewesen; auch ohne diesen Griff in die Krimi-Trickkiste, lieber Herr Schulman, hätte ich Ihren Roman zu Ende gelesen. Trotzdem: vielen Dank für diesen Einblick in verletzte Seelen und die Möglichkeit, Verständnis zu entwickeln, auf der rationalen und emotionalen Ebene.
4,5/5*
Wo der Schwede Alex Schulman als Autor draufsteht, ist zuverlässig das Thema dysfunktionale Familie drin. Obwohl es sich bei seinem sechsten Roman "Endstation Malma" eindeutig um Fiktion handelt, sind viele Splitter und Spuren aus seinen autobiografischen Werken zu finden. Sie zu entdecken, hat mir beim Lesen Freude gemacht, notwendig zum Verständnis ist dies jedoch nicht.
Alles läuft in Malma zusammen
Drei Generationen nehmen den Zug ins abgelegene, verlassene Örtchen Malma, mehrere Stunden von Stockholm entfernt. Sie reisen nicht gleichzeitig, wie man zunächst glaubt, sondern im Abstand vieler Jahre. Drei Namen stehen abwechselnd über den 28 Kapiteln: Harriet, Oskar und Yana. In den 1970er-Jahren fährt Harriet mit ihrem Vater Bo zu einem Begräbnis dorthin, 2001 ist Harriets Ehe am Ende, trotzdem überredet sie ihren Mann Oskar, sie nach Malma zu begleiten, und etwa fünfzig Jahre nach der ersten Fahrt versucht deren Tochter Yana dort, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Mit den Perspektivwechseln verschwimmen – sicher vom Autor beabsichtigt – Generationen und Zeitebenen, alles scheint parallel zu verlaufen und man braucht beim Lesen viel Konzentration. Harriets Ur-Katastrophe, als beide Eltern bei der Scheidung ihre Schwester präferierten, zerstörte sie, ließ sie den falschen, da ebenfalls traumatisierten Partner wählen und setzte sich generationenübergreifend fort. Was wird aus einem verschmähten Kind? Wie stark prägt die Kindheit unser Verhalten? Welchen Folgen hat es, wenn ein Vater seine Liebe nicht zeigen kann? Wann verliert man sein Kind? Und: Welches Geheimnis liegt in Malma begraben?
Düster, aber nicht hoffnungslos
Alex Schulman, Bestsellerautor in Schweden und mittlerweile vielfach übersetzt, Blogger, Podcaster und Regisseur seines eigenen Theaterstücks am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm, verhehlt nicht, dass sein Schreiben selbsttherapeutische Motive hat. Harriets Mantra „You are not alone“ vermag hoffentlich Betroffene aus desolaten Familien stützen. Mich als Nicht-Betroffene setzt die Schulmansche Literatur Erfahrungen aus, die ich sonst eher meiden würde, lässt mich in eine dunkle, verstörende Welt blicken und schafft Verständnis für Verhaltensmuster traumatisierter Menschen. Was Alex Schulmans Bücher über andere, nicht weniger düster-dramatische Kindheits-Literatur hinaushebt, ist sein außergewöhnlich scharfer Blick für kindliche Verletzlichkeit und Sensibilität und die lebenslang offenen Wunden durch Nichtbeachtung und Zurückweisung. Weder Harriets Taktik der beständigen Rückschau, noch Oskars Versuch, die Vergangenheit abzuhaken, die Opferrolle abzustreifen und in die Zukunft zu blicken, vermag zu befreien, und so wird das Trauma an die Tochter Yana weitergereicht. Dass bei ihr zuletzt zarte Hoffnung auf Versöhnung aufkeimt, ist der Lichtblick im Roman.
Puzzlestein für Puzzlestein
Man kann "Endstation Malma" die auffällige Konstruktion vorwerfen oder das offensichtliche Bestreben, alle Leserinnen und Leser für das Thema zu gewinnen, auch mit Einsatz von Thriller-Elementen. Nichts davon hat mich gestört. Mir gefallen die Virtuosität, mit der Alex Schulman die Puzzlesteine ineinanderfügt, seine Fähigkeit, schleichendes Unbehagen zu erzeugen und sein eleganter Stil. Vorzüglich gelingt der Übersetzerin Hanna Granz die Übertragung der klaren, wohlklingenden Melodie des schwedischen Originals. Wie gut allerdings, dass den unerträglichen Schockmomenten und verstörenden Grausamkeiten so wunderbare Beobachtungen aus dem Zugfenster wie diese gegenüberstehen:
"Aus dem Lautsprecher eine Durchsage, der Streckenabschnitt vor ihnen sei eingleisig, sie müssten auf einen entgegenkommenden Zug warten. Sie stehen inmitten einer Wiese, die Blumen reichen den Leuten bis zum Kinn. Wenn der Sommer noch ein paar Zentimeter ansteigt, ertrinken sie." (S. 16)
Ein Lese-Highlight!
In “Endstation Malma” schickt Alex Schulman seine Leser auf verschiedene Bahnreisen der immer gleichen Strecke nach Malma. Diese Bahnreisen unternehmen zu verschiedenen Zeiten Oskar, Yana und Harriet, über die der Leser sich mit der Zeit erschließt, dass es sich hier um eine Familie (Vater, Mutter, Tochter) handelt, die es alle drei in dieses entlegene Malma zieht, da es ein für die Familie ganz besonderer Ort ist, an dem existentielle Dinge der Familiengeschichte passierten. Quasi Häppchenweise erschließen sich dem Leser diese Zusammenhänge in den Kapiteln, die jeweils wechselnd mit den Vornamen der Protagonisten überschrieben sind. Schulman schafft dadurch in seinem Roman eine lichte, leichte und dabei über den Roman hin tragende Spannung, die ich als meisterhafte schriftstellerische Leistung empfunden habe. Die Stimmung ist an jedem Punkt erwartungsvoll, hat den leichten Schleier von Familientragödie und bleibt doch sonnig wie ein schwedischer Sommertag.
Viel mehr möchte ich über den Roman gar nicht schreiben, da es das beste ist, sich selbst auf diese lichte Spannung einzulassen und sich von Alex Schulman in die Familiengeschichte von Oskar, Harriet und Yana hineinbegleiten zu lassen. Ich sage nur: auf nach Malma! Lesend! 5 Sterne
Der schwedische Autor Alex Schulman verarbeitet in all seinen Büchern seine traumatische Kindheit. Seine Mutter war Alkoholikerin und sie war für ihre Kinder unberechenbar, mal liebevoll, mal grausam. Sein Schreiben dient ihm immer auch als Therapie. Einige Bücher sind stark autobiografisch, wie z.B. „ Verbrenn all meine Briefe“, in dem er seinen despotischen Großvater als Ursache für die Beziehungsunfähigkeit seiner Mutter ausmacht. In anderen Büchern, die noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden, geht es ganz direkt um seine Mutter und um seinen Vater.
„Endstation Malma“ ist dagegen, wie sein großer Erfolg „ Die Überlebenden“ eine fiktive Geschichte. Aber auch hier steht sein alles dominierende Thema im Zentrum : die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Wie sehr prägt die Vergangenheit die Gegenwart und unsere Zukunft und welche Nachwirkungen haben Verletzungen in der Kindheit auf die nächsten Generationen ? Und wann verliert man sein Kind?
Drei Menschen reisen mit dem Zug in die fiktive Kleinstadt Malma, einige Stunden von Stockholm entfernt. Die achtjährige Harriet ist mit ihrem schweigsamen Vater unterwegs zu einer Beerdigung. Oskar fährt in Begleitung seiner Frau; die Ehe der Beiden ist in einer tiefen Krise. Und
Yana reist in der Hoffnung nach Malma, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen.
Rätselt man zu Beginn noch, welche Verbindung zwischen den Personen besteht, wird bald klar, dass zwar alle auf derselben Strecke unterwegs sind, aber zu unterschiedlichen Zeiten, 1976, 2001 und in der Gegenwart.
Harriet ist das Verbindungsglied aller drei Zeitebenen, anfangs als Kind, später als Ehefrau von Oskar und Mutter von Yana.
Harriet ist ein zutiefst verunsichertes Kind, das immer versucht, ihrem Vater alles recht zu machen, beständig um Aufmerksamkeit und Liebe buhlt. Verständlich, denn sie hat heimlich ein Gespräch ihrer Eltern belauscht, in dem diese beschließen, nach ihrer Trennung beide Töchter untereinander aufzuteilen. Allerdings wollten beide Harriets Schwester, denn Harriet selbst erschien ihnen zu schwierig. Wie furchtbar muss es sich für ein Kind anfühlen, nur zweite Wahl zu sein. „ Beide wollten Amelia, keiner wollte mich. Damit lebe ich jeden Tag. Ich bin die Verschmähte, bin es immer gewesen und werde es immer sein.“
Dieses Gefühl begleitet Harriet bis ins Erwachsenenalter. So verwundert es kaum, dass sie später mit ihrem provozierenden Verhalten ihre Umwelt schockiert und für ihren Ehemann unberechenbar bleibt.
Doch warum kam sie von ihrer Reise damals nach Malma nicht wieder nach Hause zurück und warum ließ sie ihre elfjährige Tochter allein mit dem Vater? Warum wiederholte sie das Muster ihrer Kindheit, obwohl sie immer beteuert hat, wie sehr sie Yana liebt?
Diese reist nun ebenfalls nach Malma. Anlass dazu war ein Photoalbum aus dem Nachlass ihres verstorbenen Vaters. Die Reise in die Vergangenheit soll Aufklärung bringen, in der Hoffnung, dass dieses Wissen sie selbst verändern wird.
Denn für Alex Schulman ist die Zukunft „ …bereits vorherbestimmt und lässt sich nicht beeinflussen, doch was passiert ist, ist veränderlich, es bewegt sich die ganze Zeit.“ Was sich zuerst paradox anhört, ergibt Sinn, wenn man sich auf diesen Gedanken einlässt. Unser Wissen über die Vergangenheit ist unvollständig und kann somit falsch sein. Erst wenn wir die Zusammenhänge erkennen und verstehen, können wir aus den vorgegebenen Mustern ausbrechen und neue Wege gehen. Dazu muss man sich der Vergangenheit stellen, so schmerzhaft das auch sein mag, das Bild davon zurechtrücken, um für sich eine Zukunft zu finden.
Diesen Roman zu lesen ist kein Vergnügen, zu schmerzhaft sind die Erfahrungen der Protagonisten, zu verstörend oft ihr Verhalten. Doch dieser Blick in Abgründe kann helfen, Menschen mit solch traumatischen Erlebnissen besser zu verstehen.
Es sind die z.T. brutalen Szenen, die schockieren, aber auch die lange Liste der Lieblosigkeiten von Seiten der Erwachsenen. Dabei gibt es Liebe zwischen den Figuren, doch sie sind nicht in der Lage diese zu zeigen, unfähig zu einer liebevollen und ehrlichen Beziehung . Bezeichnend ist hier auch, dass Harriet mit Oskar sich einen Partner ausgesucht hat, der ähnlich beschädigt ist wie sie.
Dass Alex Schulman beim Leser so intensive Gefühle auslöst, liegt zum einen daran, dass er aus eigenem Erleben schöpfen kann, aber auch an seinem literarischen Können. Die Sprache ist präzise und genau, mit Bildern, die im Gedächtnis bleiben. Harte Dialoge wechseln mit poetischen Landschaftsbeschreibungen, die das Gelesene erträglich machen.
In diesem Roman überzeugt Alex Schulman erneut mit einer raffinierten Erzählkonstruktion. Drei Reisen durch Raum und Zeit, die gemeinsam an ihrem Zielort ankommen. Dabei steigert er kontinuierlich das Erzähltempo und entwickelt so einen ungeheuren Lesesog. Nach und nach werden die Geheimnisse enthüllt, dabei setzt er, manchmal zu sehr, Cliffhänger ein, um die Spannung zu erhöhen.
Die Kapitel werden wechselweise aus den Perspektiven von Harriet, Oskar und Yana erzählt. Mit großer Virtuosität verwebt Alex Schulman die einzelnen Erzählstränge. Dass man dabei trotz konzentriertem Lesen manchmal mit den Zeitebenen durcheinander kommen kann, mag gewollt sein. Zeigt der Autor doch damit wie sich Verhaltensmuster wiederholen.
Raum für vielfältige Interpretationen bieten neben der Zugmetapher noch weitere durchgängige Motive.
Eine herausfordernde und gleichermaßen bereichernde Lektüre!
Alex Schulman war mir bislang nur vom Hören und Sagen bekannt. Der schwedische Autor hat nicht nur in seiner Heimat Eindruck hinterlassen, groß war daher meine Erwartung vor der Lektüre zu "Endstation Malma".
Schulman leitet den Leser durch den Roman in dem er drei Personen zu Wort kommen lässt. Da ist zum einen Harriet, die wir sowohl als Kind, als auch als Erwachsene erleben. Ihre Eltern trennten sich damals, und jedes Elternteil bekam eine der Töchter. Wenn das nicht schon schlimm genug ist für ein Kind, hatte Harriet allerdings noch mehr zu erleiden, denn sie hört ein Gespräch der Eltern und erfährt dadurch, dass eigentlich keiner der beiden sie haben möchte. Die Mutter setzt sich durch, und sie bleibt somit bei Bo, ihrem Vater, der nicht durch Einfühlsamkeit glänzt.
Harriet entwickelt sich zu einer Erwachsenen, die gerne im Mittelpunkt stehen möchte, leider durch unangenehme Verhaltensweisen. Sie lernt Oskar kennen und aus den beiden wird ein Paar, aus dieser
Verbindung entsteht Yana.
Der Leser merkt schnell, dass vieles sich wiederholt. Auch Yana leidet, ähnlich wie ihre Mutter Harriet, die Beziehung der Eltern ist ebenfalls am Tiefpunkt angekommen. Man fragt sich als Leser, ob die Weichen im Vorfeld schon gestellt wurden…..
Fest steht, dass es sich bei allen drei um tief verletzte Seelen handelt, die schlimmes durchgemacht haben, aber selbst auch in der Lage sind schlimmes zu tun. Harriet und Oskar sind das beste Beispiel dafür. Sie wissen beide wie es ist verlassen zu werden, doch sie schützen die eigene Tochter nicht vor diesem Elend.
Schulman lässt die Vergangenheit wieder aufleben, zeigt auf wie dicht alles beieinander steht. Können alte Wunden heilen?
Der Titel hat Bezug zum Inhalt und ist keinesfalls ohne Grund gewählt. Mehr noch, Malma ist ein zentraler Punkt in dem Roman, es würde allerdings zu viel von der Handlung vorwegnehmen, daher gehe ich nicht darauf ein. Lange blieb es nämlich ein Rätsel, was in Malma damals geschah. Jeder Leser sollte selbst auf diese Reise gehen und ergründen was diesen Menschen geschehen ist. Setzen sie sich einfach in den Zug in die Vergangenheit wie Harriet, Oskar und auch Yana es getan haben und ergründen die Familiengeheimnisse.
Drei Generationen, eine Familie - dysfunktional. Generationenübergreifendes Schweigen, Einsamkeit, fehlendes Urvertrauen. Klingt deprimierend? Ist deprimierend, vor allem für die Betroffenen. Und der Autor Alex Schulman macht auch in seinem neuesten Roman keinen Hehl daraus, dass er aus eigener Erfahrung weiß, wovon er da schreibt...
Das ist kein bequemer Roman, den der schwedische Autor da präsentiert, wobei die verzahnte Konstruktion der Zeitebenen, das Stilmittel des Zuges (Es bewegt sich etwas!) vs. das Bild der Endstation (oder doch nicht?), sowie seine atmosphärisch dichten, eindringlichen Schilderungen sein großartiges Können zeigen. Doch worum geht es jetzt eigentlich genau?
Zu Beginn herrscht beim Leser Verwirrung - drei verschiedenen Personen befinden sich im Zug nach Malma. Und es dauert etwas, bis man begreift, dass sie nicht im selben Zug sitzen, sondern zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Und dass alle drei mit ihrem ganz eigenen Gepäck behaftet sind. Die achtjährige Harriet sitzt mit ihrem Vater im Zug, ängstlich darauf bedacht, ihn nicht zu verärgern; was sie am Ziel erwartet, weiß sie noch nicht. Später befindet sich Oskar mit seiner Frau Harriet im Zug, auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, doch auch er ahnt noch nicht, was in Malma auf ihn wartet. Und zuletzt Yana, die Tochter von Harriet und Oskar, die sich selbst auf den Weg nach Malma macht, um dort nach Spuren aus der Vergangenheit zu suchen, die vielleicht erklären können, wie alles kam.
Manchmal verliert man beim Lesen aus den Augen, von wem da gerade die Rede ist, wessen Gedanken und Gefühle man da lesend verfolgt (was vermutlich vom Autor so gewollt ist), wer da mit dem Leben hadert. Denn genau das tun sie alle drei, mit dem Leben hadern, mit sich, mit denen, die einen doch lieben. Lieben sollten. Lieben könnten. Mit der Familie. Ohne hier ins Detail zu gehen: es gibt gute Gründe, damit zu hadern.
Was geschieht beispielsweise mit dem Mädchen, das sich von klein auf unerwünscht fühlt und dies auch immer wieder vermittelt bekommt? Was geschieht mit dem Mädchen, das von der Angst besessen ist, eines Tages ganz alleine dazustehen? Mit dem selten jemand redet, das sich niemandem anvertrauen kann, das im Leben nicht verankert ist? Was ist mit dem Jungen, der sich Berührungen seiner Mutter erschleichen muss, indem er sich absichtlich einen Sonnenbrand zuzieht, damit sie ihn hinterher eincremt? Der sich immer wieder in Konkurrenz zu seinen Geschwistern begibt, um von seinen Eltern überhaupt gesehen zu werden?
Was geschieht mit diesen Kindern, wenn sie groß werden, erwachsen, selbst Kinder bekommen? Werden sie etwas ändern, die Fehler und Verfehlungen ihrer Eltern vermeiden, ihre eigenen Kinder sicherer im Leben verankern? Können Menschen, die selbst keine Liebe erfahren haben, diese an ihre Kinder weitergeben? Ihnen zeigen, dass sie gewollt, geliebt, geachtet sind? Alex Schulman zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie sehr die Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft überschatten kann. Gibt es also kein Entkommen?
Selten hat ein Roman beim mir so viel Unwohlsein ausgelöst, an den Grenzen des Erträglichen gekratzt. Denn Schulman schreibt nicht nur über dysfunktionale Familien, er macht sie fühlbar, lässt mehr als nur erahnen, was es bedeutet, so zu leben. Keine der genannten Personen kam mir wirklich nahe, aber die Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Einsamkeit, Wut und Angst war tatsächlich körperlich spürbar. Unglaublich atmosphärisch, auch wenn der Schreibstil selbst nicht pathetisch oder dramatisch geartet ist. Das ist ganz großes Kino, allerdings auch eine Herausforderung. Aber der Autor gibt so auch denen eine Stimme, die selbst in solchen Famlien groß geworden sind oder noch in solchen Verhältnissen leben. Er zeigt: sie werden gesehen. Insofern womöglich auch durchaus ein tröstlicher Aspekt.
Ein herausfordernder, leiser und klug konzipierter Roman, dessen düstere, bedrückende Komponenten zweilen durch eingestreute bildhafte Naturschilderungen ein wenig abgemildert werden. Wer wissen mag, was es bedeutet, in einem dysfunktionalen System (über-)leben zu müssen: Lesen!
© Parden
Mein erster Axel Schulman-Roman, an den ich mich voller Vorfreude und Erwartung begeben habe – und der schon recht schnell zu einer (leider nicht durchweg anhaltenden)
Offenbarung wurde. Axel Schulman gelingt es, die seelischen Grausamkeiten und Verletzungen, die sich Eltern, Kinder, Geschwister und „Liebende“ einander zufügen in einem sprachlich sehr besonderen Stil zu transportieren. Er verwendet zahlreiche, innovative, sehr frische Bilder und Vergleiche, die passgenau Emotionen transportieren, dabei aber nicht überspannt oder übertrieben wirken. Schulmans Sprache hatte mich bereits auf den ersten Seiten komplett eingefangen. Hinzu kommt, dass der Autor es perfekt versteht, seine Erzählebenen zu beherrschen. Der Roman ist ein, was das Jonglieren mit den verschiedenen Handlungssträngen anbelangt, virtuos komponiertes Meisterwerk, das den Leser grübeln und rätseln lässt und mit seinem inhärenten Spannungsbogen in Atem hält.
Wie seine Figuren auch, hat „Endstation Malma“ aber zwei Gesichter. So perfekt und begeisternd die oben genannten Aspekte auch sind, so ambivalent ist die emotionale Wucht des Romans. Selten habe ich bei der Lektüre eines Romans so viel, fast körperliches, Unbehagen verspürt. Schulman schildert Szenen, die an die Grenze des Erträglichen gehen, seine Figuren fügen einander sehr viel Leid und Schmerz zu, meist sehr bewusst. Damit ist nicht leicht umzugehen, diese Komponente des Romans macht schon etwas mit einem, denn die Konfrontation mit so viel Einsamkeit, Lieblosigkeit und Verlorenheit ist äußert unbequem und wirkmächtig. Dass meine Gefühlslage durch den Roman so aufgerüttelt wurde, zeigt, wie gut der Text auf dieser Ebene funktioniert, wie überzeugend die Darstellung des Emotionalen hier transportiert wird.
Bei allem Unbehagen war ich bis zum letzten Viertel des Romans völlig gebannt, besonders auch, weil mir der Roman gefiel, obwohl mir das, was er mit mir machte, nicht gefiel. Aber dann erfolgte leider der Absturz, den ich, im Versuch nicht allzu viel zu verraten, kurz umreißen will. Zum Ende hin werden die Kapitel kürzer, die Cliffhanger immer stärker und plakativer ausgereizt, ich kam mir mitunter vor, als ob ich nun einen Fitzek-Thriller in den Händen hielt. Die, bereits in den ersten 75% des Romans enthaltenen, durchaus krassen und oftmals sexualisierten Schockmomente sowie weitere Twists aus heiterem Himmel taten zu dieser Wirkung ihr Übriges hinzu, sodass aus einem sehr guten, herausragend komponierten Roman, am Schluss ein überkonstruiertes, vor allem in der Figurenzeichnung unglaubwürdiges, kalkuliertes und kommerzielles Produkt wurde, das sehr berechnend auf die Tränendrüse drückte. Dennoch: „Endstation Malma“ hat mich trotz dieser ärgerlichen Enttäuschung sehr beschäftigt.
Autor
Alex Schulman
„. […] in Büchern fand ich Sauerstoff. Man kann in Büchern atmen. In meiner Kindheit gab es davon leider oft zu wenig.“
Quelle: https://buechermenschen.de/interview/exklusiv-interview-mit-alex-schulman/
Der Mittelpunkt des Romanes bildet eine Zugreise von Stockholm ins fiktive Malma. Drei Menschen sind an Bord. Harriet, zehn Jahre alt, fährt mit ihrem unnahbaren, schweigsamen Vater zu einer Beerdigung. Oskar, ein etwa 35-jähriger Mann und Vater, ist mit seiner Frau unterwegs. Ihre Ehe ist in die Brüche gegangen und seine Frau will ihm noch einmal den Ort ihr Kindheit zeigen, bevor sie sich trennen.
Yana, eine junge Frau, ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die früh aus ihrem Leben verschwand. Ein Fotoalbum, das sie nach dem Tod ihres Vaters bekommen hat, soll ihr bei der Spurensuche helfen.
Die Zugfahrt der drei Personen nach Malma findet nicht zur gleichen Zeit statt, sondern versetzt auf drei verschiedene Zeitebenen, 1976, 2001 und heute. Was verbindet diese drei Menschen mit dem gleichen Ziel der Reise nach Malma? Erst langsam beginnt man zu verstehen, in welchem Verhältnis die Personen zueinander stehen. Dann wird klar erkennbar, dass es sich um eine Familie handelt. Harriet wird später Oskar heiraten und nach Beendigung der Fahrt sich von ihm trennen. Yana ist die Tochter der beiden. Alex Schulmann verbindet eine Familie, von der man meint, mittendrin zu stehen in einem Familientornado. Sie sitzen in einem Zug, der das gleiche Ziel für alle ansteuert. Sie können das Gleis nicht wechseln, sie können nicht aussteigen. Der Zug gleitet durch die schwedischen Wälder, Hügel und Dörfer und je näher er seinem Ziel kommt, desto mehr Fahrt nimmt die Erzählung auf, mit einem Blick zurück in eine traumatische Vergangenheit von Verlusten, Schmerzen, Beziehungsproblemen und vieles mehr, was über Generationen hinweg weitergegeben wird. Geschickt verknüpft er Handlungsstränge und verwebt transgenerational die Zeitebenen. Die Schlüsselfigur in diesem Roman ist Harriet. Mit ihr beginnt die Erzählung.
"Die Kindheit ist eine unbegreifliche Installation, genau wie ein modernes Kunstwerk. Sinnlos und überflüssig. Man möchte die ganze Scheiße am liebsten zertreten." (S. 230)
Harriet hört durch Zufall das Trennungsgespräch ihrer Eltern. Beide beschließen, jeweils eine der Töchter zu sich zu nehmen. Beide wollen sie Harriets Schwester, weil sie Harriet als „schwierig" empfinden. "Wir haben nicht dieselbe Wellenlänge“ (S. 14), sagt der Vater.
Bald darauf verlassen Mutter und Schwester das Haus und Harriet bleibt allein zurück mit ihrem düster wirkenden Vater. Sie versucht permanent die richtige Wellenlänge zu erwischen, doch das gestaltet sich als sehr schwierig, da der andere ihr Signal kaum wahrnimmt. Viel später taucht das Bild der Wellenlänge bei Harriets Tochter Yana wieder auf. Sie bekommt mit, wie ihre Mutter immer wieder vor sich hin beschwörend murmelt „ Du bist nicht allein. Du bist nicht allein.“ Yana verinnerlicht dieses Ereignis so stark wie eine nicht abschaltbare Frequenz.
Eindrucksvoll schreibt Alex Schulmann über drei Generationen hinweg von der inneren Dunkelheit der einzelnen Protagonisten. Er beginnt seine Erzählung mit kurzen Sätzen, Parataxen, die einer Dokumentation gleichen. Im Laufe der Geschichte werden kraftvolle, oftmals atemberaubende, fassungslos machende Dialoge und Szenen entwickelt und Zusammenhänge brillant dargestellt. Die Metapher Zug vervollständigt die Ausweglosigkeit, denn keiner kann aus dem fahrenden Zug aussteigen. Es entsteht eine surreale Reise durch Zeit und Raum in Gestalt eines Traumes. Der offene Raum ist die Vergangenheit, die zwar prägt, doch sie kann verändert werden im Nachhinein durch Erinnerung und Erzählen. Die Zukunft ist unausweichlich wie der Endbahnhof der Zugreise.
Fazit
Der Leser/ die Leserin kommen nicht umhin, diesen Roman unter autobiografischer Sicht des Autors zu lesen.
Zitat: “Ich will die Dunkelheit in mir verstehen, die dabei ist, mein Verhältnis zu meiner Familie zu zerstören.“
Schulman, der damals gerade selbst eine Familie gegründet hatte, am Anfang von "Verbrenn all meine Briefe“, macht damit ganz offensichtlich deutlich, dass es ihm nicht nur um ein autobiografisches, sondern auch um ein psychotherapeutisches Schreibprojekt geht. Und genau das ist sein Roman „Endstation Malma“. Eine Frage in einer Leserunde: „Könnte es daher rühren, dass sich Menschen mit seinen Erfahrungen oft unverstanden fühlen und er deshalb ganz sicher gehen will?“ Die Frage trifft den Kern. Er will, dass man ihn versteht.
"Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann ein Buch? ... Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt ... ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns."
Dieser Zitat-Auszug von Franz Kafka trifft für mich ins Schwarze. Ich habe mich geärgert, ich war wegen der Personen und Zeitebenen verwirrt, ich musste einige Abschnitte mehrfach lesen – und das bis zum Ende – ich war schockiert und fand einiges verstörend, obwohl ich nicht zart besaitet bin, was Fiktionales angeht. Mit ein paar Worten könnte ich alles zusammenfassen: Das beste Buch, das mich je geärgert hat.
Es ist, wie eine der Hauptpersonen selber sagt, eine 'Geschichte, die sich über Jahrzehnte spannt (61) und sie hat 'so viele Leerstellen' (184). Drei Personen reisen mit dem Zug nach Malma, einem kleinen Ort in Schweden, der für sie alle von Bedeutung ist, aber in wechselnden Konstellationen und nicht zur gleichen Zeit. Hier im Zug fängt es schon an, dass der Autor für den Leser Bedeutungen in Sachverhalten und Motiven versteckt. Allein diese Zugfahrt hat es in sich und so manches hat Symbolwert und kann gedeutet werden. Nach anfänglichem 'Umherirren' im Buch wurden mir die Verwandtschaftsverhältnisse der Personen untereinander klar und dass sie nicht gleichzeitig im Zug sitzen, sondern dass wir als LeserIn gemeinsam mit ihnen durch die Zeit reisen und uns hauptsächlich in Erinnerungen bewegen.
Da tun sich Abgründe auf, schreckliche Dinge sind passiert: Vorfälle mit Tieren und bei einer Prügelei, die manche LeserInnen verstören könnten. Aber am schlimmsten finde ich die seelischen Verletzungen, die Kindern zugefügt werden und die sie nachhaltig verändern und belasten und die sie leider später an ihre Kinder weitergeben. Das scheint mir das Thema des Buches zu sein, die Weitergabe von Traumata an die nächste Generation.
'Sie sei eine Gefangene der Entscheidungen, die andere für sie getroffen hätten, und übertrage lediglich das Gift an die nächste Generation.' (72)
Damit tauchen Fragen auf, die einen auch nach dem Lesen noch mit der Suche nach Antworten und Verstehen beschäftigen: Muss sich alles wiederholen? Gibt es keinen Ausweg, keine Verbesserung, keine Änderung? Bestimmt die Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft? Was für schreckliche Erlebnisse, die zu einer solchen Aussage führen:
"Die Kindheit ist eine unbegreifliche Installation, genau wie ein modernes Kunstwerk. Sinnlos und überflüssig. Man möchte die ganze Scheiße am liebsten zertreten." (S.230)
Ein furchtbarer Satz, der tiefes Mitleid mit denen weckt, die so denken. Verstörung, Einsamkeit, Sprachlosigkeit, Lieblosigkeit, Gleichgültigkeit, seelische Grausamkeit.
Bleibt noch die Frage zu beantworten, warum ich mich zuerst geärgert habe: es gibt 'falsche Fährten' – zumindest interpretiere ich sie so - sexuell gefärbte Bemerkungen und Szenen, auch mir unwahrscheinlich erscheinende Verhaltensweisen: mal liebevoll, mal jahrelang keinen Kontakt, das etwas überdramatische Ende mit einigen Ungereimtheiten. Diese Widersprüchlichkeiten haben mich zuerst gestört, aber nach längerem Überlegen nehme ich sie als Entscheidung des Autors Schulman hin, ebenso wie das stark Durchkonstruierte der Geschichte. Dieses empfand ich nach längerem Überlegen sogar als meisterhaft komponiert.
Wie man also feststellen kann: diese Geschichte hat mich zuerst geärgert und später überzeugt und mir Einsichten verschafft – auch in Diskussionen mit anderen – die ich alleine nie gehabt hätte. Es gibt gestörte Familien, die ihre Traumata an ihre Kinder weitergeben und die das Gefühl haben, ihre Zukunft nicht selbst bestimmen zu können. Man kann nur hoffen, dass ihnen geholfen werden kann. Nicht ganz auszuschließen ist auch, dass der Autor dieses Buch geschrieben hat, um seine eigenen Traumata zu verarbeiten.
...,so möchte ich die Entlarvungen in diesem Roman um dysfunktionale Familienbande und deren Auswirkungen beschreiben. Alle Protagonisten sitzen im Zug von Stockholm nach Malma, aber eben zu unterschiedlichen Zeiten. Diese Zugfahrten bilden das Grundgerüst für die einzelnen Kapitel die nach ihrer jeweils betreffenden Hauptfigur benannt sind. Erinnerungen an einzelne Szenen aus dem Leben der Personen setzten sich dann so langsam zu einem Gesamtbild einer äußerst toxischen Verflechtung dreier Generationen zusammen.
Harriet ist Scheidungskind und blieb beim Vater. Ein Besuch bei Mutter und Schwester endete in einer Katastrophe, danach wurde der Kontakt untersagt und der Vater und die Achtjährige versuchen sich ihrer Liebe und Zusammenhalt mehr schlecht als recht zu versichern. Ein Kaninchen spielt dabei eine traurige Rolle und fungiert anschließend als Schlagwort des Verstehens.
Oskar kommt selbst aus einer lieblosen Familie und hat mit seinen Dämonen zu kämpfen. Er ist Harriets Ehemann. Doch das Mädchen von einst ist immer noch gefangen in ihren Erlebnissen. Die Ehe zwischen Oskar und Harriet funktioniert also auch nicht so richtig. Harriets Ausbrüche lassen ihn verzweifeln. Schließlich will ihm Harriet etwas zeigen, doch von diesem Ausflug kehrt nur Oskar zurück und erklärt wiederum seiner Tochter Yana, dass die Mama sich entschieden hat, sie zu verlassen.
Yana begibt sich als erwachsene Frau auch auf den Weg nach Malma. Ein Stapel Fotos, geschossen von ihrem Großvater, sind dabei ihr "Reiseführer".
Atmosphärisch dicht und spannend erzählt Schulman seine Geschichten rund um Familientragödien und nachhallende Schicksale. Das hat er schon mit den Vorgängern "Verbrenn all meine Briefe" und "Die Überlebenden" bewiesen. Allerdings verzockt er sich hier für meinen Geschmack zu sehr in abgehackten Spannungsbögen und sprunghaften Sequenzen. Die Fäden der Beziehungen zwischen den drei Kapitelpersonen lässt er lange lose liegen, erzeugte damit aber bei mir nur, dass mein Fokus mehr auf Detektivarbeit abdriftete, als darauf, sich den fatalen Vorfällen und deren Auswirkungen zu widmen. Als mich mein Spürsinn im Stich ließ, ärgerte ich mich umso mehr darüber, dass die Fragen immer mehr, die Antworten darauf aber wie in einer schlechten Reportage auf sich warten ließen. Die Protagonisten starben unbemerkt unter meinem lesenden Auge, denn ich war beschäftigt damit, zurück zu blättern und nach Hinweisen zu suchen.... hätte ich jetzt gern behauptet, aber ich verlor das Interesse und überflog den Schluss. Haha, nein, ich kann mir vorstellen, dass ob der vielen scheußlichen Todesfälle, Urnenbegräbnisse und seelischen Verstümmelungen von Kindern, das Buch seine interessierten Leser finden wird.
Schulman verarbeitet seine persönlichen Erfahrungen in seinen Romanen. Entstetzt, oder mit einem zustimmenden Abnicken, der Leser darf sich angesprochen und/oder informiert fühlen. Doch wird hier meines Erachtens zu sehr mit ernsthaften Themen gespielt, hingehalten und mit Zeitsprüngen und Wiederholungen der Sequenzen aus der Sicht des Anderen in die Länge gezogen. Ich hatte meine Schwierigkeiten mit diesem Buch, sorry.
Als die achtjährige Harriet mit ihrem Vater im Zug sitzt, weiß sie noch nicht genau, wohin sie diese Reise führen wird. Während ihr Vater seine große Kamera dabei hat, trägt das Mädchen in ihrem Rucksack ihre Malsachen - und eine Urne. Ebenfalls im Zug sitzt Oskar mit seiner Ehefrau. Die beiden hatten sich einst auf einer anderen Zugfahrt kennengelernt, doch mittlerweile herrscht zwischen ihnen nur noch Schweigen. Und dann ist da noch Yana, die ohne Begleitung reist und gedankenverloren in ihrem Fotoalbum blättert. Sie alle haben ein gemeinsames Reiseziel: Malma, ein kleiner Ort, an dem man sich wundert, dass hier überhaupt noch ein Zug hält. Ein Ort, der für jede:n einzelne:n von ihnen eine ganz besondere Bedeutung hat...
"Endstation Malma" ist der neue Roman des schwedischen Erfolgsautoren Alex Schulman, der in der deutschen Übersetzung von Hanna Granz jetzt bei dtv erschienen ist. Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt sorgte Schulman vor allem mit "Die Überlebenden" für Furore und erfreut sich seitdem einer treuen Leserschaft. Sein neues Werk ist über weite Strecken ebenso lesenswert, krankt aber leider an derselben Schwäche - einem überkonstruierten und unglaubwürdigen Ende. Doch während man bei "Die Überlebenden" noch mit einem Kopfschütteln darüber hinwegsehen konnte, entpuppt sich das Finale von "Endstation Malma" als regelrechtes Ärgernis.
Wie schreibt man eine Rezension, in der man über den absoluten Schwachpunkt des Romans gar nicht viel sagen kann, weil man künftigen Leser:innen ansonsten damit die Freude respektive den Ärger verderben würde? Und wie bewertet man ein Buch, das einen über gut 250 Seiten absolut gefangen nimmt, um mit einer Schlussvolte alles auf den Kopf zu stellen? Ein schwieriges Unterfangen...
Zunächst einmal fällt "Endstation Malma" durch seine wunderbare Sprache, vor allem aber die hervorragende Komposition des Textes auf. Auf der sprachlichen Ebene kommen nicht nur Zugfreund:innen auf ihre Kosten. Sehr gelungen, wie Schulman einerseits poetische Beschreibungen der vorbeirauschenden Landschaften mit knallhartem Realismus paart, wenn die Bahn mal wieder auf freier Strecke zum Halt kommt. Brillant gar, wie es dem Autoren gelingt, Schritt für Schritt das Verhältnis der Figuren zueinander und das Rätsel über die Zugfahrt aufzudecken. Da ist höchste Aufmerksamkeit der Leserschaft erforderlich.
Gemein haben alle Figuren auf jeden Fall, dass sie in ihrem Leben mindestens einmal zutiefst verletzt wurden und noch immer darunter leiden. Dabei gelingt Schulman eine der vielleicht traurigsten Szenen der Gegenwartsliteratur. Fast schmerzhaft ist es, wenn man als Leser:in gemeinsam mit der kleinen Harriet den Eltern im Nebenraum zuhört und dabei erfährt, dass niemand von ihnen bei der geplanten Trennung Harriet "behalten" möchte. Tatsächlich wirkt das Kind hier wie ein unerwünschter Gegenstand.
Ohnehin ist Harriet die Schlüsselfigur des Romans. Sie ist es letztlich, die die Fäden zwischen den Figuren zusammenhält und sie ist es auch, die den Verlauf des Romans am stärksten beeinflusst. In einer späteren Episode lernt man diese Harriet als junge Frau und gleichzeitig als hochinteressante und hochkomplexe Romanfigur kennen. Eine Frau voller Intensität und Emotionen, die ihren Mitmenschen alles abverlangt, aber auch so viel gibt. In einer besonders bemerkenswerten Szene sitzt diese Harriet gemeinsam mit ihrem neuen Freund auf dem Balkon und rührt diesen zu Tränen, als sie ihn über seine Kindheit reflektieren lässt. Es ist die wohl stärkste Szene des gesamten Romans und lässt sie nur noch intensiver werden, wenn man weiß, dass es hier auch um die Kindheitserlebnisse Alex Schulmans geht, die dieser wie schon bei "Die Überlebenden" gekonnt in die Romanhandlung einbindet.
Mit zunehmender Dauer des Romans schleichen sich Szenen unnötiger Härte ein, die in ihrer Explizität die Handlung des Romans nicht voranbringen und in erster Linie wohl schocken sollen. Da beißt ein Kind dem anderen eine Brustwarze ab, was in seinen Details kaum zu ertragen ist. Ein weiteres Kind tritt versehentlich auf den Kopf eines Kaninchens und tötet es damit. Und ein Mädchen wirft in einem Zirkus einem Affen den Ball mit voller Wucht an den Kopf, so dass auch dieses Tier stirbt. Wer Mitleid mit Tieren hat, wie beispielsweise Büchner-Preisträger Clemens J. Setz, sollte bei dieser Lektüre also vorsichtig sein.
Meisterlich gelingt es Schulman wiederum, die Erzählung voranzutreiben. "Endstation Malma" fliegt von Cliffhanger zu Cliffhanger. Nun mag man dem Schweden vorwerfen, dass er es damit übertreibt, doch wenn jemand dieses Spiel mit den Leser:innen so gut beherrscht, ist es durchaus legitim, dieses Mittel auch anzuwenden. "Endstation Malma" wirkt dadurch manchmal sogar wie ein Kriminalroman, allerdings wie ein besonders spannender und anspruchsvoller.
Insgesamt also mit Ausnahme der Grausamkeiten ein hervorragender Roman, knappe fünf Sterne, Leseempfehlung. Könnte man meinen, wäre da nicht das vollkommen in den Sand gesetzte Finale. Dieses führt nämlich nahezu die komplette vorangegangene Handlung ad absurdum. Ja, eigentlich könnte man die gesamte Zugfahrt aus der Handlung streichen. Schulman setzt nämlich abermals auf den Überraschungseffekt, diesmal aber in mehrfacher Hinsicht. Da werden zwei Geheimnisse aufgedeckt, die die Leser:innen aber eigentlich überhaupt nicht tangierten. Es kommt zu dramatischen, völlig unglaubwürdigen Handlungen. Und, was fast das Schlimmste ist: Schulman führt seine Figuren vor, der Umgang mit ihnen ist nahezu schäbig. Während einige sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinden, eine Figur plötzlich das Böse überhaupt verkörpert, muss ein anderer Charakter das ganze Schlamassel ausbaden. In jeder Hinsicht bedauerlich!
So ist "Endstation Malma" insgesamt ein über weite Strecken hervorragender Generationen-Roman, der sehr gut komponiert und erzählt wird. Das Finale ist allerdings so unrund, dass ich nur eine begrenzte Leseempfehlung aussprechen kann. Oder man schlägt den Roman einfach nach 270 Seiten begeistert zu, erspart sich den Ärger - und nimmt sich einen Halt auf freier Strecke, ohne in Malma anzukommen.
3,5/5
Der 3.Roman von Alex Schulman ist ebenso meisterhaft komponiert wie die beiden Vorgänger "Die Überlebenden" und "Verbrenn all meine Briefe".
Zunächst glaubt man, alle drei Figuren, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird, säßen im gleichen Zug mit der Endstation Malma.
- Harriet mit ihrem Vater, der seine Fototasche dabei hat, samt einer Urne
- Oskar und seine Frau, die im Zug nach Malma sitzen, während sie schläft
-Yana, eine junge Frau, die ebenfalls im Zug nach Malma, um etwas herauszufinden.
Der Autor führt uns auf die falsche Fährte, erst im 3.Kapitel, realisiert man, dass die drei Handlungsstränge zeitlich versetzt sind:
"Ninchens Beerdigung, August 1976, und darunter der Name ihrer Mutter: Harriet." (S.59) Im Folgenden werden die Fotos beschrieben, die auf der ersten Reise nach Malma im Jahr 1976 entstanden sind.
"Es gab mehrere Reisen nach Malma. Die erste fand in den Siebzigerjahren statt. Da war ihre Mutter noch ein Kind und fuhr mit ihrem Vater dort hin, um jemanden namens Ninchen zu beerdigen - ein Haustier vielleicht? (Harriet-Kapitel)
Die zweite Reise erfolgte am 17.September 2001. Ihre Mutter war erwachsen und todunglücklich in der Beziehung mit ihrem Vater." (S.60) (Oskar-Kapitel)
"Und das hier ist die dritte Fahrt." (S.60) (Yana-Kapitel)
Erneut vermag es Schulman mit einer ungewöhnlichen Komposition zu begeistern.
Neben der Zugreise nach Malma gibt es noch einen anderen roten Faden, der die verschiedenen Handlungsstränge zusammenhält: die schwierige Tochter-Vater-Beziehung, unter der sowohl Harriet als auch Yana leiden. Beide haben Angst ihre Väter zu verärgern, können sich nicht entfalten, leben in der Stille einer fehlenden Kommunikation. Allerdings zeigt sich, dass Harriets Vater sie durchaus geliebt hat, nur nicht imstande gewesen ist, es ihr zu zeigen. Auch Oskar fragt sich, warum er seine Tochter verliert, doch seine ungezügelte Wut verhindert, dass die beiden zueinander finden.
Beide Mädchen, Harriet und Yana, wurden von ihren Müttern verlassen. Warum verlässt ausgerechnet Harriet, die selbst unter der Trennung von der Mutter zu leiden hatte, ihre eigene Tochter. Das ist eines der Geheimnisse sein, die es zu ergründen gilt und das sich am Ende auflöst.
Während der Zugfahrten erinnern sich die drei Reisenden an Ereignisse aus ihrer Vergangenheit. Kapitel für Kapitel entfaltet sich das Bild der dysfunktionalen Familie.
"Die Kindheit ist eine unbegreifliche Installation, genau wie ein modernes Kunstwerk. Sinnlos und überflüssig. Man möchte die ganze Scheiße am liebsten zertreten." (S.230)
Ein Satz, den Oskar denkt und der exemplarisch für alle Protagonist:innen gilt. Wie traurig, denn eigentlich sollte doch die Kindheit ein Ort der seligen Erinnerung sein.
Dieses Zitat bringt für mich zum Ausdruck, was alle Protagonisten erlebt haben. Ob Oskar, der unter der mangelnden Berührung seiner Mutter gelitten hat, oder Harriet und Yana, die mit schweigenden und jähzornigen Vätern aufwachsen müssen, sie alle erleben keine glückliche Kindheit. Welche Folgen das hat, kann man am besten an Harriet sehen, die Dreh-und Angelpunkt der Geschichte ist. Die sich immer wieder „you are not alone“ (Yana) vorsagen muss, um einen Halt zu finden. An Harriets Figur wird die Frage aufgeworfen, inwiefern ihre Kindheit ihr Verhalten als Erwachsene rechtfertigt.
"Die geraden Linien von der Kindheit bis in die Gegenwart hinauf, alles, was man jetzt ist, kann und muss durch das erklärt werden, was einem früher widerfahren ist. (...) Und man ist selbst niemals schuld, man ist immer nur das Opfer der Fehler und Schwächen anderer." (S.233)
Harriet sieht sich als Opfer, sucht die Entschuldigung in ihrer Vergangenheit, deshalb auch die 2.Reise nach Malma. Yana beschreibt das Verhältnis ihrer Eltern sehr treffend:
"Wenn ihre Eltern sich stritten, stellte Yana sich oft vor, dass das, was sie hörte, Hilferufe von Eingesperrten wären, einem Mann und einer Frau, die irgendwo gefangen gehalten wurden und verzweifelt herauszukommen versuchten." (147)
Gegen Ende des Romans nimmt die Handlung an Fahrt auf, die Kapitel werden kürzer und es klärt sich, warum Harriet nicht zu Yana zurückgekehrt ist. Diese Aufklärung ist allerdings wenig realistisch, definitiv eine Schwachstelle des Romans. Es bleiben weitere Fragen offen, über die am Ende nachdenken darf ;).
Drei Menschen im Zug nach Malma. Harriet fährt gemeinsam mit ihrem Vater an den Ort. Sie haben einen Plan, doch Harriet ist manchmal sehr unsicher. In einem anderen Abteil sitzt Oskar mit seiner Frau. Es ist die letzte gemeinsame Fahrt vor der geplanten Trennung. Mit Wehmut erinnert sich Oskar wie sie sich kennengelernt haben. Und schließlich macht Yana sich auf den Weg, um den Spuren aus einem Fotoalbum zu folgen. Sie sitzen nicht im selben Abteil, aber sie haben das selbe Ziel. Was hoffen Harriet, Oskar und Yana in Malma zu finden.
Die Werke von Alex Schulman stehen für einfühlsame Beschreibungen und Qualität. Haben die drei Hauptpersonen außer ihrem Reiseziel noch andere Gemeinsamkeiten? Sie müssen mit Trennungen und Umbrüchen leben lernen. Wie man vielleicht aus dem eigenen Leben weiß, gestaltet sich dies manchmal als recht schwierig. Herriet ist noch ein Kind. Verlangt das Leben schon zu viel von ihr? Und Oskar, der scheinbar gestandene Mann, hat auch nicht so viel Sicherheit zu bieten. Yana dagegen wirkt aufgrund der Umstände wie ein Solitär. Doch sie hat gelernt, sich zurechtzufinden und in gewissem Rahmen ihren Weg zu gehen.
Wieder mal hat der Autor ein ansprechendes Werk geschaffen, das schon mit dem ersten Kapitel mitreißt. Es ist schier unbegreiflich, was Harriet zugemutet wird. Was Oskar sich zumuten lässt. Wenn diese Beiden Mitgefühlt erregen, so ist es Yana, der man Hoffnung wünscht. Ihr Charakter erweckt ein helleres Gefühlt. Auch wenn sie einer Aufklärung nur nahe kommt, so wünscht man ihr, dass sie ihr Leben weiterhin meistert. Harriet ist immer die andere, doch ihr verschlossener Vater lässt sie nicht zurück. Harriet und die Adler, das sind die wichtigen Elemente seines Lebens. Oskar scheint das Scheitern vorbestimmt zu sein. Ihn kann nur schwerlich verstehen. Doch wenn nach und nach die Zusammenhänge zwischen diesen melancholischen, manchmal verzweifelten Menschen klar werden, kann man nicht anders als in diesen Roman einzutauchen.
Das gut auf die Handlung abgestimmte Cover bietet einen sanften Blickfang.
Überall dysfunktionale Familien
In Alex Schulmans neuem Roman werden verschiedene Menschen im Zug nach Malma gezeigt, einem kleinen Ort ein paar Stunden von Stockholm entfernt. Da ist ein Vater mit seiner kleinen Tochter Harriet, Harriet mit ihrem Mann Oskar, von dem sie sich trennen wird und ihre Tochter Yana, die nach Malma unterwegs ist, weil sie Antworten auf Fragen erhofft, die bisher unbeantwortet geblieben sind. Diese Menschen sitzen natürlich nicht im selben Zug, sondern ihre Reisen finden in einem Zeitraum von etwa fünfzig Jahren statt, die erste mit Harriet als Kind in den 70er Jahren. Die Kapitelüberschriften Harriet, Oskar und Yana sind ein Hinweis auf die drei Zeitebenen und den damit verbundenen Perspektivwechsel. Am Ende kann der aufmerksame Leser die Puzzleteile zusammensetzen und kennt die wesentlichen Elemente der geschilderten Schicksale.
Der Autor zeigt mehrere dysfunktionale Familien: Ehen scheitern, und Kinder durchleben eine schwere Kindheit, die sie für immer prägen wird. Harriet wird unter besonders belastenden Umständen von ihrer Schwester getrennt, weil die Eltern die Geschwister unter sich aufteilen und ein weiterer Kontakt nicht geplant ist. Sie erlebt mit, dass beide Elternteile die Schwester vorziehen und sie zurückweisen. Harriet wächst beim Vater auf. Später wird Harriet nach dem Scheitern ihrer Ehe mit Oskar spurlos verschwinden und Tochter Yana zurücklassen. Wie wird ein Kind mit Verlust und Zurückweisung fertig? Inwieweit prägen diese frühen schmerzlichen Erfahrungen ihr eigenes Leben? Schulman setzt sich in diesem auch in der deutschen Übersetzung hervorragenden Roman mit diesen ernsten Themen auseinander und macht sie für den Leser nachvollziehbar. Mir hat auch Schulmans neues Buch sehr gut gefallen, und ich werde sicher noch weitere Romane von ihm lesen.